Kurs:Modellierung und Numerische Methoden von Finanzderivaten/3 Elemente der stochastischen Analysis

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3.1 Das Itô-Integral

Ein einfaches Modell einer (deterministischen) Kursentwicklung eines Bonds mit dem risikofreien Zinssatz r>0 wird durch die Differentialgleichung

dBtdt=r(t)Bt(t),B(0)=B0,t[0,T]

beschrieben, denn ihre Lösung ist gerade (vgl. Kap. 2 für r=const)

Bt=B0exp(0tr(s)ds).

Zur Berechnung von Kenngrößen für Aktienmärkte reicht diese Betrachtung nicht aus, denn es treten zufällige Einflüsse auf, die durch ergänzende ”Rausch”-Einflüsse, durch stochastische Terme ergänzt werden muss. Dies führt auf den Begriff der stochastischen Differentialgleichung, die für die stochastische Variable Xt durch

(3.1) ddtXt=r(t,Xt)+b(t,Xt)ξt

mit einem deterministischen (oder Drift-) Term r(t,Xt) und einem Term für sog. ”weißes Rauschen” mit der Intensität b(t,Xt)ξt beschrieben werden kann. ξt ist dabei eine N(0,1)-verteilte Zufallsvariable für jedes t[0,T] und b(t,x) ein Intensitätsfaktor. Wir bemerken weiter, dass der Index t für die Zeitabhängigkeit der Zufallsgröße anstelle von X(t) steht.

Der Prozess ξt, der auch als "Gaußsches weißes Rauschen" bezeichnet wird, entspricht formal der pfadweisen Ableitung einer Brownschen Bewegung oder eines Wiener-Prozesses Wt, d.h. einem Gauss-Prozess mit W0=0 und N(0,1)-Verteilung, d.h. es gilt (siehe Abschnitt 2.4)

(3.2) E(Wt)=0,E((Wt)2)=t

mit unabhängigen Argumenten

E((WuWv)(WtWs))=0,0s<t<u<v.

Nun ist Gausssches weißes Rauschen keine konventionelle Variable, denn es gilt z. B., dass ein Pfad eines Wiener Prozesses Wt fast nirgends differenzierbar ist. Deshalb schreibt man die Gleichung (3.1) symbolisch in Differentialform:

(3.3) dXt=r(t,Xt)dt+b(t,Xt)dWt,

welche als Integralgleichung interpretiert werden sollte:

(3.4) Xt=Xt0+t0tr(s,Xs)ds+t0tb(s,Xs)dWs

Hier ist das erste Integral ein gewöhnliches Riemann-Integral; man kann nun versuchen, das zweite Integral als Riemann-Stieltjes-Integral

t0tb(s,Xs(ω))dWs=t0tb(s,Xs(ω))dWsds(ω)ds

zu interpretieren. Allerdings benötigt man wegen der nicht vorhandenen Differenzierbarkeit der Abbildung tWt(ω) für fast alle ωΩ zur mathematischen Behandlung des Problems den im Jahre 1940 von dem Japaner K. Itô entwickelten Kalkül. Später, Anfang der 60-iger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wurde von dem russischen Physiker R. L. Stratanovich ein anderer Zugang vorgeschlagen, der als stochastisches Integral von Stratanovich in die Literatur eingegangen ist. Wir beschäftigen uns hier nur mit dem sog. Itô-Integral.

Wir betrachten das Itô-Integral zuerst für einfache stochastische Prozesse, d.h. für solche Xt, die stückweise konstant bzgl. t sind. Für allgemeine stochastische Prozesse wird es dann als Fortsetzung dieses Funktionals definiert. Wir geben folgende (etwas vereinfachte) Definition an.

Definition 3.1

Das Itô-Integral mit dem Integrator Wt ist gegeben durch
0tXsdWs:=limnk=0n1Xtk(Wtk+1Wtk),
wobei Xs ein stochastischer Prozess und 0=t0<t1<<tn=t eine Partition von [0,t] mit maxk=0,,n1|tk+1tk|0 für n seien.

Eine genaue Definition des Itô-Integrals, das wiederum ein stochastischer Prozess ist, ist aufwändig, da insbesondere die Regularität des stochastischen Prozesses Xt präzisiert werden muss (die Stetigkeit von tXt genügt hier nicht, siehe z. B. [15]).

Beispiel

Zur Illustration des Itô-Integrals berechnen wir 0tWsdWs. Wäre die Abbildung tWt differenzierbar, könnte man wegen W0=0

0tWsdWs=0tddsWs22ds=12Wt2

schreiben. Das ist jedoch für nicht differenzierbare Funktionen falsch.

Wir rechnen wie folgt

12n1k=0(Wtk+1Wtk)2=12k=1nWtk2k=0n1WtkWtk+1+12n1k=0Wtk2
=12Wtn2k=0n1Wtk2k=0n1WtkWtk+1=12Wtn2k=0n1Wtk(Wtk+1Wtk).

Aus dem Satz von Wiener folgt, dass E[(Wtk+1Wtk)2]=tk+1tk gilt, folglich erhalten wir aus

k=0n1Wtk(Wtk+1Wtk)=12Wt212k=0n1(Wtk+1Wtk)2

im Grenzfall n

(3.5) 0tWsdWs=12Wt2t2.

3.2 Stochastische Integration

Nunmehr können wir eine (spezielle) Definition einer stochastischen Differentialgleichung angeben und uns ihrer Lösung zuwenden.

Definition 3.2

Eine stochastische Differentialgleichung von Itô ist gegeben durch
(3.6) dXt=a(Xt,t)dt+b(Xt,t)dWt,
wobei Xt ein stochastischer Prozess, Wt der Wiener-Prozess und a,b geeignete (d.h. hinreichend reguläre) Funktionen seien. Die Gleichung (3.6) ist eine symbolische Schreibweise für die Integralgleichung
(3.7) Xt=X0+0ta(Xs,s)ds+0tb(Xs,s)dWs.
Erfüllt ein stochastischer Prozess die Gleichung (3.7), so heißt er Itô-Prozess; a(Xt,t)dt heißt Driftterm, b(Xt,t)dWt heißt Diffusionsterm.

Die Lösbarkeit stochastischer Differentialgleichungen wird z. B. in [13] diskutiert.

Beispiel:

(a) Seien in (3.6) a=0 und b=1. Dann folgt

Xt=X0+0tdWs=X0+WtW0=X0+Wt,

d. h. ein Wiener-Prozess ist ein spezieller Itô-Prozess.

(b) Seien a(Xt,t)=rXt,r,b(Xt,t)=0. Dann ist die Gleichung

(3.8) dXt=rXtdt oder dXtdt=rXt

mit der Anfangsbedingung X(0)=X0 zu lösen. Das ist eine gewöhnliche Differentialgleichung mit der Lösung

Xt=X(t)=X0ert,t0.

Man kann also Gleichung (3.8) als stochastische Differentialgleichung für einen Bond Xt mit risikofreier Zinsrate r interpretieren.

Fundamental für die Herleitung der Black-Scholes-Gleichung ist das Lemma von Itô. Es zeigt, dass für einen Itô-Prozess Xt auch die Funktion f(Xt,t) ein Itô-Prozess ist.

Satz 3.1 (Lemma von Itô)

Sei Xt ein Itô-Prozess und fC2(×[0,1)). Dann ist der stochastische Prozess f=ft=f(Xt,t) ein Itô-Prozess, und es gilt
df=x(ft+afx+12b22fx2)dt+bfxdW.

Beweis:

Für die Varianz (den Erwartungswert) eines Wiener-Prozesses hatten wir in Kap. 3 gezeigt:

E((ΔWt)2):=E((Wt+ΔtWt)2)=Δt.

Im Grenzfall Δtdt schreiben wir formal

(3.9) dW2=dt.

Ein formaler Beweis des Itô-Lemma lässt sich unter Verwendung von (3.9) sowie unter Vernachlässigung von Termen höherer Ordnung (d. h., z. B. durch Approximation bis dt und unter Vernachlässigung von Termen in dt3/2 und in dt2) durch Reihenentwicklung führen. Ein exakter Beweis ist wiederum in [15] zu finden.

q.e.d.

Wir entwickeln f nach der Taylorformel:

f(Xt+Δt,t+Δt)f(Xt,t)=ft(Xt,t)Δt+fx(Xt,t)(Xt+ΔtXt)+122ft2(Xt,t)(Δt)2
+122fx2(Xt,t)(Xt+ΔtXt)22fxt(Xt,t)Δt(Xt+ΔtXt)+O((Δt)2)+O((Xt+ΔtXt)3),

wobei F(Δt)=O(G(Δt)) (O - Landau-Symbol) bedeutet, dass

|F(Δt)G(Δt)|const für Δt0.

Wir schreiben ΔX=Xt+ΔtXt und Δf=f(Xt+Δt,t+Δt)f(X,t). Ersetzen wir Δf,ΔX und Δt durch df,dX und dt, so erhalten wir

(3.10) df=ftdt+fxdX+122fx2dX2+O(dt2)+O(dXdt)+O(dX3).

Da Xt ein Itô-Prozess ist, gilt

dX2=(adt+bdW)2=a2dt2+2abdtdW+b2dW2.

Aus (3.9) folgt

dX2=b2dt+O(dt3/2).

Setzen wir diesen Ausdruck in (3.10) ein, erhalten wir

df=ftdt+fx(adt+bdW)+12b22fx2dt=(ft+afx+12b22fx2)dt+bfxdW.

Diese Betrachtungen motivieren Satz 3.1.

Beispiel:

Wir berechnen nochmals das Itô-Integral 0tWsdWs mittels der Itô-Formel. Mit f(x)=x2,a=0 und b=1 folgt aus dem Lemma von Itô

d(Wt2)=dt+2WtdWt

oder in Integralform

Wt2=W02+0tds+20tWsdWs.

Wegen W0=0 folgt die Formel (3.5).

Beispiel:

Die exakte Lösung der stochastischen Differentialgleichung

dXt=μXtdt+σXtdWt

ist durch die geometrische Brownsche Bewegung (vgl. Kap. 2)

(3.11) Xt=X0exp((μ12σ2)t+σWt)

gegeben, denn das Lemma von Itô, angewendet auf die Funktion

Xt=f(Yt,t)=X0exp((μ12σ2)t+σYt) mit Yt=Wt

mit a=0,b=1, liefert

dXt=(μ12σ2)Xtdt+12σ2Xtdt+σXtdWt=μXtdt+σXtdWt.

3.3 Numerische Algorithmen

Wir orientieren uns an dem soeben betrachteten, analytisch lösbaren Vergleichsmodell und formulieren eine Euler-Diskretisierung für eine stochastische Differentialgleichung.

Wir schreiben die diskrete Version der Itô-stochastischen Differentialgleichung (3.6) bzw. (3.7) auf:

(3.12) Δx=a(x,t)Δt+b(x,t)ΔW

und realisieren die Approximation eines Wiener Prozesses durch folgendes Vorgehen:

  • Sei Δt>0 (Zeitinkrement). Für tk:=kΔt lässt sich Wt als Summe von Zuwächsen ΔWk darstellen:
WkΔt=j=1k(WjΔtW(j1)Δt)=:ΔWj
Die ΔWj sind unabhängig und N(0,Δt)-verteilt.
  • Wir berechnen Zuwächse ΔW aus standard-normalverteilten Zufallszahlen Z. Falls ZN(0,1)ZΔtN(0,Δt), und somit folgt weiter
ΔWj:=ZΔt mit ZN(0,1).
  • Algorithmus: Euler-Diskretisierung
Starte bei t0=0,W0=0 mit Δt=t/N und x0.
Schleife: Für j=1,2,
bestimme tj=tj1+Δt,
erzeuge ZN(0,1),
berechne Wj=Wj1+ZΔt, d. h. ΔW=WjWj1,
berechne xj=xj1+a(xj1,tj1)Δt+b(xj1,tj1)ΔW.

Beispiel:

Wir lösen die (stochastische) Differentialgleichung

dXt=a(Xt,t)dt+b(Xt,t)dWt,a(x,t)=0.04x,b(x,t)=0.3x

für 0t10 mit dem Anfangswert X0=50. Wir wählen N=500.

Im Bild 3.1 werden vier Trajektorien gezeichnet, die strichlierte Linie zeigt die nur von dem Drift-Term abhängende ’deterministische’ Lösung. Außerdem geben wir das zugehörige Matlab-Programm an.

% Loesung der Ito-Differentialgleichung mit dem EULER-Verfahren
clear, clf
X0 = 50; r = 0.04; sigma = 0.3; T = 10; N=499; % Input
t0 = 0; W0 = 0; x0 = X0; % Initialisierung
dt = T/(N+1);
ZZ = [ ]; XX = [X0]; F = [ ];
dis = sprintf(’Schritt Zeit determ. Loesung Wiener-Prozess’);
disp(dis) % Ueberschrift
for j=1:N
  t1 = t0+dt;
  Z = normrnd(0,1); % Erzeugung N(0,1)-verteilter Zufallszahlen
  ZZ = [ZZ Z];
  dW = Z*sqrt(dt);
  % Euler-Loesung
  x1 = x0 + r*x0*dt + sigma*x0*dW;
  % deterministischer Anteil (Bond)
  xdet = X0*exp(r*t0);
  XX = [XX x1];
  F = [F xdet];
  dis = sprintf(’%d %f %f %f’, j, t0, xdet, x0);
  disp(dis)
  x0 = x1; t0 = t1;
end;
% Plotten einer Trajektorie und des deterministischen Anteils:
plot(XX,’-b’), hold on, plot(F,’--r’), grid
title(’Realisierung eines Wiener-Prozesses’)

Wir werden später andere numerische Methoden zur Lösung stochastischer Differentialgleichungen kennenlernen, insbesondere solche, die auf Taylorreihen-Entwicklungen und auf der Monte-Carlo-Simulation beruhen.

Literatur

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