Kurs:Lineare Algebra II/Euklidische Vektorräume

Aus testwiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Wir wollen in reellen Vektorräumen Längen und Winkel von Vektoren messen. Als Methode verallgemeinern wir den Begriff des Skalarproduktes aus der anschaulichen Vektorrechnung im n.

Skalarprodukt

Definition 1.1

Sei V ein reeller Vektorraum. Eine Abbildung, die jedem Paar von Vektoren (u,v) eine reelle Zahl u,v zuordnet, heißt Skalarprodukt, wenn folgende Regeln erfüllt sind:
(s1) u,v ist linear in u und linear in v (bilinear),
(s2) u,v=v,u (symmetrisch),
(s3) für u0 gilt u,u>0 (positiv definit).
Ein Euklidischer Vektorraum ist ein reeller Vektorraum mit einem Skalarprodukt
,:V×V,(u,v)u,v.

Beispiele

  • Der euklidische Standard-Vektorraum ist der n mit dem Standard-Skalarprodukt: u,v:=utv=i=1nuivi.
  • Ein Isomorphismus ϕ:Vn induziert auf V ein Skalarprodukt durch u,vϕ:=ϕ(u),ϕ(v).
  • Eine reguläre Matrix AGln() induziert auf n ein Skalarprodukt durch u,v:=utAtAv. Für A=𝔼n erhält man das Standardskalarprodukt.
  • Auf dem Vektorraum der stetigen reellen Funktionen über einem abgeschlossenen Intervall [a,b],C0([a,b]), ist f,g:=abf(x)g(x)dx ein Skalarprodukt.

Test: Warum ist das letzte Beispiel ein Skalarprodukt?

Bemerkungen

  • Die positive Definitheit erlaubt die Einführung der Norm (Länge) eines Vektors: |x|:=x,x.
  • Es gelten: |rx|=|r||x| und |x|=0 gdw. x=0.

Satz 1.2 (Cauchy-Schwarz-Ungleichung)

|u,v||u||v|, (Zusatz: Gleichheit gilt gdw. u,v linear abhängig).

Die Cauchy-Schwarz-Ungleichung rechtfertigt die Einführung eines Winkels φ zwischen zwei von Null verschiedenen Vektoren durch die Formel:

cos(φ):=u,v|u||v|.

Die Regeln der anschaulichen Geometrie gelten weiter:

Corollar 1.3

Dreiecksungleichung: |u+v||u|+|v|.
Kossinussatz: |u+v|2=|u|2+|v|22|u||v|cos(φ).

Orthogonalität

Der Kosinus eines rechten Winkels hat den Wert Null. Deshalb wird definiert:

Definition 1.4

Zwei Vektoren u,v heißen orthogonal, wenn u,v=0 (Schreibweise: uv).
Eine Menge von Vektoren {v1,...,vk} heißt Orthonormalsystem (ONS), wenn vi,vj=δij.
Ist die Menge zusätzlich eine Basis, dann heißt sie Orthonormalbasis (ONB).

Hierbei bezeichnet δij das Kronecker-Symbol: δij={1i=j0ij.

Lemma 1.5

Ein ONS ist stets linear unabhängig.

Eigenschaften

Sei {v1,...,vn} eine ONB, dann gelten die folgenden Formeln:

  • x=i=1nx,vivi,
  • |x|2=i=1nx,vi2,
  • x,y=i=1nx,viy,vi,
  • Bessel-Ungleichung: |x|2i=1kx,vi2; Zusatz: Gleichheit gdw. xLin{v1,...,vk}.

Satz 1.6

Jeder endlich erzeugte Unterraum eines euklidisches Vektorraumes hat eine ONB: Sei {v1,...,vk} linear unabhängig, dann existieren Vektoren v'iLin(v1,...,vi), so dass v'1,...,v'i eine ONB von Lin(v1,...,vi) für i=1,...,k ist.

Der Beweis ergibt sich aus dem Orthonormalisierungsverfahren: Induktiv gilt die folgende Formel

v'i+1:=v~|v~|,v~:=vi+1vi+1,v'1v1...vi+1,v'ivi.

In einem Euklidischen Vektorraum hat jeder Unterraum einen ausgezeichneten komplementären Unterraum, sein orthogonales Komplement:

Satz 1.7

Sei U ein endlich erzeugter Unterraum von V, dann gilt V=UU, wobei das orthogonale Komplement von U durch U:={x|uU:x,u=0} gebildet wird.

Test: Warum ist U ein Unterraum?

Der Beweis ergibt sich aus der eindeutigen Zerlegung jedes Vektors in die Summe von seinem Lot bezüglich U aus U und seiner orthogonalen Projektion auf U.

Corollar 1.8

Sei u1,...,ur eine ONB von U, dann ist die orthogonale Projektion prU:VU durch folgende Formel gegeben: prU(x)=i=1rx,uiui.

Zur Erinnerung: Zu jeder Zerlegung V=UW gehören zwei Projektionsoperatoren pr1,pr2Hom(V,V) mit den folgenden Eigenschaften:

  • ker(pr1)=im(pr2)=W,ker(pr2)=im(pr1)=U,
  • pri2=pri,
  • pri(x)=x gdw. xim(pri),
  • {0,1} ist die Menge der Eigenwerte von pri.

Corollar 1.9

Sei u1,...,ur ein ONS in einem endlich erzeugten euklidischen Vektorraum, dann existiert eine orthonormierte Ergänzung zu einer ONB.

Die Ergänzung ergibt sich aus einer ONB von U, U erzeugt durch die Vektoren des gegebenen ONS.
Als besonders wichtige Aussage folgt die eindeutige Lösbarkeit des folgenden Minimalproblems:

Corollar 1.10

Das Minimalproblem {uU||xu|=minimal} besitzt die eindeutige Lösung x0:=prU(x).

Der Abstand d(x,U) entspricht der Länge des Lotes. Dabei ist das Lot das Bild von x bei der Projektion auf den zweiten Summanden prU(x).
Anwendungsbeispiel: Methode der kleinsten Quadrate und lineare Ausgleichsrechnung. Ist ein lineares Gleichungssystem nicht lösbar, dann ist die beste Näherungslösung zu bestimmen.

Satz 1.11

Sei Ax=b ein lineares Gleichungssystem, dann ist jede Lösung x0 der Normalengleichung AtAx=Atb eine Lösung des Minimalproblems: |Ax0b||Axb| für alle x.

Dabei ist die Normalengleichung stets lösbar, da 𝒮(AtA)=𝒮(At), also insbesondere rg(AtA)=rg(A). Die Lösung ist eindeutig, falls rg(A)=n, n - Spaltenzahl. Zum Beweis benötigen wir das folgende

Lemma 1.12

Die Vektoren {a1,...,ak} sind linear unabhängig gdw. die Determinante (Gramsche Determinante) der k-Matrix aus den Skalarprodukten nicht verschwindet G(a1,...,ak):=det(ai,aj)0.

Orthogonale Abbildungen und orthogonale Matrizen

Definition 1.13

Ein linearer Operator auf einem euklidischen Vektorraum, der Längen der Vektoren erhält, heißt orthogonale Abbildung. Eine quadratische Matrix A heißt orthogonale Matrix, wenn At=A1.

Eigenschaften von orthogonalen Abbildungen und Matrizen:

  • Ein orthogonaler Operator erhält das Skalarprodukt und ist winkeltreu.
  • Ein orthogonaler Operator hat höchstens die Eigenwerte 1 und 1.
  • Ein orthogonaler Operator bildet eine ONB auf eine ONB ab.
  • Die Determinante einer orthogonalen Matrix ist 1 oder 1.
  • Die Menge aller orthogonalen (n,n)-Matrizen bildet eine Untergruppe (orthogonale Gruppe) 𝒪nGln.
  • Die Spalten resp. Zeilen einer orthogonalen Matrix bilden eine ONB des Euklidischen Standardraumes.

Satz 1.14

Sei L ein Operator von einem Euklidischen Vektorraum V und B eine ONB:
L ist orthogonale Abbildung gdw. die Matrixdarstellung MBB(L) eine orthogonale Matrix ist.

Lemma 1.15

Ist n ungerade und A𝒪n, dann folgt aus |A|=1 stets |AIn|=0 und aus |A|=1 stets |A+In|=0.

Beispiele:

  • Im 2 sind orthogonale Abbildungen Drehungen um dem Ursprung und orthogonale Spiegelungen an Geraden

durch 0.

  • Die zugehörigen orthogonalen Matrizen sind:
Dφ:=(cos(φ)sin(φ)sin(φ)cos(φ)) und D'φ:=(cos(φ)sin(φ)sin(φ)cos(φ)).
  • Orthogonale Abbildungen im 3 sind Drehungen um eine Achse oder Drehungen um eine Achse mit anschließender orthogonaler Spiegelung an der zur Drehachse orthogonalen Ebene.

Lemma 1.16

Ist L orthogonaler Operator und UV ein L-invarianter Unterraum, dann ist auch U L-invariant, d.h. L(U)U.

Hinweis: Für jede orthogonale Abbildung gilt: Sind r:=dim(Vλ=1) und s:=dim(Vλ=1) die Dimensionen der Eigenräume, dann ist L eine Verknüpfung von a:=nrs2 Drehungen in a zueinander orthogonalen Ebenen von V und von s orthogonalen Spiegelungen an Hyperebenen, die paarweise orthogonal zueinander sind.

Euklidische Punkträume

Ist der Translationsraum eines reellen affines Raumes mit einem Skalarprodukt versehen, so sprechen wir von einem Euklidischen Punktraum. Hier können Abstände bestimmt und Winkel gemessen werden. Der Abstand zweier Punkte ist die Länge des Verbindungsvektors d(P,Q):=|PQ|.

Definition 1.17

Der Abstand d(H1,H2) zweier (windschiefer) affiner Unterräume ist das Infimum der Abstände zwischen Punkten der beiden Unterräume.

Der Abstand affiner Unterräume ist stets endlich:

Lemma 1.18

In je zwei affinen Unterräumen H1,H2 gibt es zwei Punkte P1,P2 von minimalem Abstand:
d(P1,P2)=d(H1,H2).

Testfrage: Unter welchen Bedingungen sind die Punkte Pi eindeutig bestimmt?

Im Spezialfall Punkt und Hyperebene kann der Abstand aus der Hesseschen Normalform abgelesen werden.
Eine Hyperebene H im euklidischen Standardraum n ist Lösungsmenge einer linearen Gleichung a1x1+...+anxn=b. Ist der Vektor a=(a1,...,an) normiert, dann heißt die Gleichung Hessesche Normalform der Hyperebene H (evtl. nach Multiplikation der Gleichung mit 1 gilt stets b0 und die Normalform ist eindeutig).

Satz 1.19

Sei P ein Punkt und a1x1+...+anxn=b die Hessesche Normalform der Hyperebene H, dann gilt
d(P,H)=|a,OP|.

Testfrage: Welche geometrische Bedeutung besitzen a und b bzgl. H und das Vorzeichen des Skalarproduktes bzgl. der Lage von P zu H?

Information: verwandte Begriffe, komplexe Version, nichteuklidische Räume

Normierte und metrische Räume

An dieser Stelle sei auf verwandte Begriffe hingewiesen, die insbesondere in der Funktionalanalysis benutzt werden:

Definition 1.20

Ein K-Vektorraum (wobei K) heißt normiert, falls es eine Abbildung (Norm) _:V+ gibt, die folgenden Regeln genügt:
(1) x>0 für alle x0; (2) rx=|r|x; (3) x+yx+y.

Definition 1.21

Eine Menge M heißt metrischer Raum, falls es eine Abbildung (Abstandsfunktion) ρ:M×M+ gibt, die folgenden Regeln genügt:
(1) ρ(a,b)>0 für alle ab; (2) ρ(a,b)=ρ(b,a); (3) ρ(a,b)ρ(a,c)+ρ(c,b).

Jeder euklidische VR ist normiert, jeder normierte VR ist metrisch durch x:=x,x resp. ρ(x,y):=xy. Die Umkehrungen gelten nicht.

Beispiel: Für jeden Körper K definiert der Hamming-Abstand eine Metrik auf Kn durch

ρ(x,y):=#{i|xiyi}.

Der Hamming-Abstand spielt eine zentrale Rolle bei der Beschreibung effektiver Codes.

Information: Unitäre Vektorräume

Schließlich wollen wir die Begriffsbildungen des euklidischen VR und des Skalarproduktes auf den Fall komplexer Vektorräume ausdehnen. Betrachten wir zunächst den Standardfall: n enthält n als reellen Unterraum und ist selbst ein reeller VR der Dimension 2n:

nn2n;xx;z=x+iy(x,y).

Wir wollen die reelle Standardnorm so auf n fortsetzen, dass sie mit den obigen Abbildungen verträglich ist. Damit ergibt sich |z|2=x12+...+xn2+y12+...+yn2=z1z1+...+znzn=ztz.

Definition 1.22

Eine Abbildung L:VW zwischen komplexen VR heißt semilinear, falls
L(z+w)=L(z)+L(w) und L(λz)=λL(z).

Die Abbildung ’komplexe Konjugation’ auf n ist semilinear. Das Standardbeispiel führt auf die folgende Verallgemeinerung des Skalarproduktes im Komplexen:

Definition 1.23

Ein Paar (V,h) eines komplexen Vektorraumes und einer Abbildung h:V×V heißt unitär, falls h folgende Regeln erfüllt:
(1) h(u,v) ist linear in u und semilinear in v (sesquilinear),
(2) h(u,v)=h(v,u) (Bedingung (1) + (2) definiert eine Hermitesche Form, speziell ist h(u,u) reell),
(3) für u0 gilt h(u,u)>0 (positiv definit).

Bemerkungen:

  • Jede Matrix H=A+iBMat(n,n;) induziert eine sesquilineare Form hH auf den n durch hH(z,w):=ztHw. Dabei entsprechen Realteil bzw. Imaginärteil von hH jeweils Bilinearformen auf 2n induziert durch die Matrizen
(A00A) bzw. (0BB0).
  • hH ist Hermitesch gdw. A symmetrisch und B schiefsymmetrisch.
  • Ein unitärer VR ist normiert durch w2:=h(w,w).
  • Es gilt die Cauchy-Schwarz-Ungleichung. Damit kann der Winkel zwischen Vektoren definiert werden. Die Begriffe ’orthogonal’, ’orthogonales Komplement’ und ’ONB’ sind wörtlich zu übertragen.
  • Ebenso kann das Orthonormierungsverfahren im unitären Raum verwendet werden.

Information: Nichteuklidische Geometrie

Der Verzicht auf die Bedingung der positiven Definitheit führt zu Vektoren der Länge Null und sogar von imaginärer Länge. So gibt das Modell des 4 mit der nichteuklidischen ’Länge’

|(t,x1,x2,x3)|2:=(ct)2x12x22x32,c>0

einen mathematischen Hintergrund für die Beschreibung der speziellen Relativitätstheorie und zum Verstehen ihrer Besonderheiten.