Kurs:Analysis II/Kapitel VI: Gewöhnliche Differentialgleichungen/Exakte Differentialgleichungen (§2)
Definition 1
- In einer offenen Umgebung eines Punktes seien die Funktionen und der Klasse mit der Eigenschaft
- gegeben. Unter der Lösung einer regulären Differentialgleichung
- verstehen wir eine reguläre Kurve
- auf dem Intervall der Klasse , welche die Gleichung
- erfüllt; dabei ist richtig.
Bemerkungen
1. Das Lösen der Differentialgleichung (2) bedeutet also, reguläre Kurven
so zu finden, dass ihr Tangentialvektor
orthogonal zum vorgegebenem Vektorfeld im Punkt steht.
2. Nach eventueller Drehung der -Ebene können wir die Lösungskurve lokal in der Form
darstellen. Wir erhalten dann die Differentialgleichung
Falls erfüllt ist, erscheint letztere äquivalent zur folgenden expliziten Differentialgleichung erster Ordnung
3. Auch wenn die Lösungskurve nicht als Graph über der -Ebene darstellbar ist, behält die Differentialgleichung (2) ihre Bedeutung.
Definition 2
- Ist in einem Punkt die Gleichung
- erfüllt, so nennen wir einen singulären Punkt der Differentialgleichung (2).
Definition 3
- Die reguläre Differentialgleichung (2)
- heißt exakt, wenn das Vektorfeld
- auf der offenen Menge eine Stammfunktion der Klasse mit der Eigenschaft
- besitzt. Dann gilt also
Satz 1
- Sei die reguläre, exakte Differentialgleichung (2) in der offenen Menge mit der Stammfunktion gegeben. Dann ist die reguläre Kurve
- auf dem Intervall der Klasse eine Lösung der Differentialgleichung genau dann, wenn
- gilt.
Beweis
1. Sei auf dem Intervall eine Lösung der Differentialgleichung (2). Dann folgt
Also folgt
2. Sei
erfüllt. Dann erhalten wir durch Differentiation
Somit löst die Differentialgleichung (2).
q.e.d.
Satz 2 (Integrabilitätsbedingung)
- Seien der Punkt und das Rechteck
- mit den halben Kantenlängen gegeben. Weiter sei die reguläre Differentialgleichung
- auf diesem Rechteck erklärt. Dann ist diese Differentialgleichung genau dann exakt, wenn die Integrabilitätsbedingung
- erfüllt ist.
Beweis
1. Sei die Funktion (2) exakt in . Gemäß Definition 3 existiert dann eine Stammfunktion der Klasse mit der Eigenschaft
Wir erhalten die Identität
und somit
2. Sei in erfüllt. Wir erklären nun die Funktion
Wir differenzieren dann nach der oberen Grenze und erhalten
Weiter gilt
Damit folgt und
3. Wir berechnen nun noch
Unter Beachtung des Mittelwertsatzes der Differentialrechnung folgt mit einem Zwischenwert für jedes die Identität
Da gleichmäßig auf dem Intervall für gegen die Funktion konvergiert, kann nach Satz 2 aus Kapitel V, §6 die Integration mit dem Limes vertauscht werden.
q.e.d.
Bemerkungen
1. Wir haben die Stammfunktion durch Integration über einen bestimmten rechteckigen Weg erhalten. Wir erhalten auch eine Stammfunktion durch die folgende Integration:
Wenn wir die Theorie der Kurvenintegrale zur Hilfe nehmen, kann man die Stammfunktion auch durch Integration über einen beliebigen Weg in vom Punkt zum Punkt berechnen. Dann kann man Satz 2 auch auf beliebige einfach zusammenhängende Gebiete verallgemeinern. Wir können die nichtlinearen Gleichungen aber nur lokal lösen und somit reichen Rechtecke hier aus!
2. Die Stammfunktion ist bis auf eine Konstante bestimmt.
3. Man berechnet die Stammfunktion durch unbestimmte Integration wie folgt: Wir integrieren die erste Gleichung in (5) und erhalten
Dann bestimmen wir mit der zweiten Gleichung die Funktion aus der Identität
Entsprechend können wir zunächst die zweite Gleichung in (5) integrieren und dann die erste heranziehen.
Wir betrachten nun auf dem Rechteck beliebige reguläre Differentialgleichungen der Gestalt
Auch wenn diese Differentialgleichung nicht exakt ist, erwarten wir anschaulich, dass sie in einem hinreichend kleinen Rechteck um den Punkt eine Lösung besitzt. Wir multiplizieren (7) mit einer nullstellenfreien Funktion
und erhalten die Differentialgleichung
Offensichtlich haben die Probleme (7) und (8) die gleichen Lösungskurven. Falls (7) keine exakte Differentialgleichung darstellt, wollen wir nun den Multiplikator so wählen, dass die Differentialgleichung (8) exakt wird.
Definition 4
- Die Funktion
- heißt Eulerscher Multiplikator oder integrierender Faktor der Differentialgleichung (7), falls die Differentialgleichung (8) exakt ist. Auf dem Rechteck gilt dann die Beziehung
- bzw.
Beispiel 1: Multiplikator der Form
In diesem Spezialfall wird aus (9) die homogene, lineare, gewöhnliche Differentialgleichung
die folgendermaßen gelöst werden kann: Wir integrieren die Identität
und erhalten
bzw.
Entsprechend finden wir einen Multiplikator der Form , falls dieser existiert.