Quelltext der Seite Kurs:Maßtheorie auf topologischen Räumen/Differenzierbarkeit in Analysis und Funktiontheorie


== Einführung ==
Bevor die Differenzierbarkeit allgemein auf topologischen Vektorräumen zu definieren, betrachten den Begriff der Differenzierbarkeit aus der Analysis und erweitern diesen dann auf [[Topologischer Vektorraum|topologische Vektoräume]].
[[Datei:Tangent dynamic.gif|mini|Tangente - dynamisch dargestellt]]

== Differenzierbarkeit in der reellen Analysis ==
Als ''Differenzierbarkeit'' bezeichnet man in der [[w:de:Mathematik|Mathematik]] die Eigenschaft einer [[w:de:Funktion (Mathematik)|Funktion]], sich lokal um einen Punkt in eindeutiger Weise [[w:de:Lineare Abbildung|linear]] [[w:de:approximieren|approximieren]] zu lassen.
[[Datei:Polynomialdeg3.svg|mini|Graph der differenzierbaren Funktion <math>\tfrac{1}{4}x^3+\tfrac{3}{4}x^2-\tfrac{3}{2}x-2</math>]]

=== Differenzierbarkeit mit mehreren Veränderlichen ===
Der Begriff Differenzierbarkeit ist nicht nur für [[w:de:reellwertige Funktion|reellwertige Funktionen]] auf der Menge der [[w:de:Reelle Zahl|reellen Zahlen]] erklärt, sondern auch für Funktionen mehrerer Variablen, für [[w:de:Komplexe Zahl|komplexe]] Funktionen, für Abbildungen zwischen reellen oder komplexen [[w:de:Vektorraum|Vektorräumen]] und für viele andere Typen von Funktionen und Abbildungen. Für manche Typen von Funktionen (zum Beispiel für Funktionen mehrerer Variablen) gibt es mehrere verschiedene Differenzierbarkeitsbegriffe.

=== Thematische Einordnung der Differenzierbarkeit ===
Die Frage nach der Differenzierbarkeit gehört zu den Problemstellungen der [[w:de:Differentialrechnung|Differentialrechnung]], eines Teilgebiets der [[w:de:Analysis|Analysis]]. In diesem Kurs wird Differenzierbarkeit auf unitalen [[Topologische Algebra|topologischen Algebren]] mit einem [[Kurs:Topologische_Invertierbarkeitskriterien/Gaugefunktionale#Definition:_unital_positiv|unital positiven Gaugefunktionalsystem]] betrachtet.

=== Reellwertige Funktionen einer reellen Veränderlichen ===
==== Definitionen ====
[[Datei:Tangent to a curve.svg|mini|Schwarz: Graph der Funktion ''f''<br />Rot: Graph der linearen Funktion ''g,'' die ''f'' in der Nähe der Stelle ''x''<sub>0</sub> approximiert]]
[[Datei:Differentiability 2nd def.png|mini|Zur 2. Definition der Differenzierbarkeit]]
[[Datei:Approximation of cos with linear functions without numbers.svg|mini|Differenzierbare Funktionen sind genau diejenigen Funktionen, die lokal durch genau eine lineare Funktion approximierbar sind.]]
Im einfachsten Fall betrachtet man eine reellwertige Funktion einer reellen [[w:de:Variable (Mathematik)|Variablen]], also eine Funktion <math>f\colon D \to \mathbb{R}</math>, deren Funktionswerte [[w:de:reelle Zahl|reelle Zahl]]en sind und deren [[w:de:Definitionsbereich|Definitionsbereich]] <math>D \subset \mathbb{R}</math> ein offenes [[w:de:Intervall (Mathematik)|Intervall]] reeller Zahlen ist. Eine solche Funktion <math>f</math> ist differenzierbar an einer Stelle <math>x_0</math> aus ihrem Definitionsbereich, wenn die [[w:de:Differentialrechnung|Ableitung]] von <math>f</math> an dieser Stelle existiert. Es gibt im Wesentlichen zwei äquivalente Definitionen für die Existenz der Ableitung:

==== 1. Definition: Grenzwert Differenzenquotient====
Eine Funktion <math>f</math> ist genau dann ''differenzierbar'' an der Stelle <math>x_0</math> ihres Definitionsbereichs, wenn der ''beidseitige'' [[w:de:Grenzwert (Funktion)|Grenzwert]] der [[w:de:Differenzenquotient|Differenzenquotient]]en
:<math>
  \lim_{x \rightarrow x_0} \frac {f(x) - f(x_0)} {x - x_0} = \lim_{h \rightarrow 0} \frac {f(x_0 + h) - f(x_0)} {h}
</math>
existiert. Diesen Grenzwert bezeichnet man als die Ableitung von <math>f</math> an der Stelle <math>x_0</math>, geschrieben <math>f'(x_0)</math>.

==== 2. Definition: Taylorentwicklung bis zur 1. Ableitung ====
Eine Funktion <math>f</math> ist genau dann ''differenzierbar'' an der Stelle <math>x_0</math> ihres Definitionsbereichs, wenn eine reelle Zahl <math>m</math> (die von <math>x_0</math> abhängen darf) und eine (ebenfalls von <math>x_0</math> abhängige) Funktion <math>r</math> (Fehler der Approximation) mit folgenden Eigenschaften existieren:
* <math>f(x_0 + h) = f(x_0) + m \cdot h + r(h)</math>
* Für <math>h \to 0</math> geht <math>r(h)</math> schneller als linear gegen 0, das heißt: <math>  \lim_{h \rightarrow 0}  \frac{r(h)}{h} \to 0</math>

==== Bemerkung zur Taylorentwicklung ====
Die Funktion <math>f</math> lässt sich also in der Nähe von <math>x_0</math> durch eine lineare Funktion <math>g</math> mit
:<math>g(x_0 + h) = f(x_0) + m \cdot h</math>
bis auf den Fehler <math>r(h)</math> approximieren. Den Wert <math>m</math> bezeichnet man als die Ableitung von <math>f</math> an der Stelle <math>x_0</math>.

==== Bemerkung zur Geschichte der Definition ====
Differenzierbare Funktionen sind damit genau diejenigen Funktionen, die sich lokal durch lineare Funktionen approximieren lassen (siehe Abbildung). Diese Definition geht auf [[w:de:Karl Weierstraß|Karl Weierstraß]] zurück und wird [[w:de:Weierstraßsche Zerlegungsformel|Weierstraßsche Zerlegungsformel]] genannt.


===Definition: Differenzierbare Funktion ===
Eine Funktion <math>f'\colon \mathbb{D} \to \mathbb{W}</math>  heißt genau dann ''differenzierbar'' (ohne Einschränkung auf einen speziellen Punkt), wenn sie an ''jeder'' Stelle <math>x_o \in\mathbb{D}</math> ihres Definitionsbereichs <math>\mathbb{D}</math>  differenzierbar ist. Die Funktion <math>f'\colon \mathbb{D} \to \mathbb{W}</math> ordnet jedem <math>x \in \mathbb{D}</math> und die  Ableitung <math> f'(x) \in \mathbb{W} </math> zu. <math>f'</math> heißt dann ''Ableitungsfunktion'' oder kurz ''Ableitung'' von <math>f</math>.

=== Erläuterungen 1 - Steigung der Tangente ===
Grafisch lässt sich die Eigenschaft Differenzierbarkeit so deuten, dass eine Funktion genau dann an der Stelle <math>x_0</math> differenzierbar ist, wenn im zugehörigen Punkt <math>(x_0, f(x_0))</math> des Graphen von <math>f</math> genau eine [[w:de:Tangente|Tangente]] existiert. Die Tangente ist der Graph, der in der 2.&nbsp;Definition genannten linearen Funktion&nbsp;<math>g</math> mit:
:<math>g(x_0 + h) = f(x_0) + f'(x_o) \cdot h.</math>

=== Erläuterungen 2 - Steigung der Tangente - Steigung Sekante ===
Die Ableitung <math>f'(x_o)</math> von <math>f</math> an der Stelle <math>x_0</math> ist die Steigung dieser Tangente. Die in der ersten Definition genannten Differenzenquotienten sind die Steigungen von Sekanten durch den Punkt <math>(x_0, f(x_0))</math> und einen anderen Kurvenpunkt <math>(x, f(x))</math>. Die Funktion <math>f</math> ist also an der Stelle <math>x_0</math> differenzierbar, wenn die Steigungen dieser Sekanten beim Grenzübergang <math>x\to x_0</math> gegen die Steigung der Tangente konvergieren.

=== Erläuterungen 3 - Zusammenhang Stetigkeit und Differenzierbarkeit ===
Aus Differenzierbarkeit folgt [[w:de:Stetige Funktion|Stetigkeit]]: Jede an einer Stelle differenzierbare Funktion ist dort auch stetig. Jede auf ihrem Definitionsbereich differenzierbare Funktion ist stetig. Die Umkehrung gilt nicht. Die Betragsfunktion ist z.B. keine überall differenzierbaren Funktionen, obwohl diese an jeder Stelle stetig ist.

=== Beispiele für differenzierbare Funktionen ===
Aus den [[w:de:Ableitungsregeln|Ableitungsregeln]] folgt:
* Jede Funktion, die sich durch ein [[w:de:Polynom|Polynom]] darstellen lässt, ist differenzierbar.
* Summen, Produkte und Quotienten von differenzierbaren Funktionen sind differenzierbar.
* Verkettungen von differenzierbaren Funktionen sind differenzierbar.

=== Ableitung der Umkehrfunktion ===
Die Umkehrfunktion <math>f^{-1}</math> einer bijektiven differenzierbaren Funktion <math>f</math> ist genau dann an der Stelle <math>y_0=f(x_0)</math> differenzierbar, wenn <math>f^\prime(x_0) \ne 0</math> ist.

=== Berechnung der Ableitung einer Funktion ===
Die [[w:de:Parabel (Mathematik)|Parabelfunktion]] <math>f(x) = x^2</math> ist für alle <math>x \in \mathbb{R}</math> differenzierbar. Sei <math>x_0 \in \mathbb{R}</math> dann ist
:<math>\lim_{h \rightarrow 0} \frac {f(x_0 + h) - f(x_0)} {h} = \lim_{h \rightarrow 0} \frac {(x_0 + h)^2 - x_0^2} {h} = \lim_{h \rightarrow 0} \frac {2 x_0 h + h^2} {h} = \lim_{h \rightarrow 0} ( 2 x_0 + h ) = 2 x_0</math> 
und ihre Ableitung ist <math>f'(x) = 2 x</math>.

=== Potenzreihen und Differenzierbarkeit ===
Aus den [[w:de:Grenzwertsätze|Grenzwertsätzne]] für [[w:de:Potenzreihe|Potenzreihen]] folgt:
* Jede Funktion, die lokal durch eine Potenzreihe dargestellt werden kann, ist differenzierbar.
* In der [[Kurs:Funktionentheorie|komplexen Analysis]] liefert die einmalige komplexe Differenzierbarkeit ([[w:de:Holomorphe Funktion|Holomorphie]]) auf einer offenen Menge <math>U</math> auch, dass die Funktion unendlich oft differenzierbar ist. Damit lassen sich holomorphe Funktionen lokal in Potenzreihen entwickeln.

=== Beispiele für nicht differenzierbare Funktionen ===
[[Datei:Heaviside.svg|mini|Die [[w:de:Heaviside-Funktion|Heaviside-Funktion]] ist an der Stelle 0 nicht stetig und deshalb auch nicht differenzierbar.]]
Da jede differenzierbare Funktion stetig ist, ist umgekehrt jede unstetige Funktion (zum Beispiel eine [[w:de:Treppenfunktion (reelle Funktion)|Treppenfunktion]] oder die [[w:de:Dirichlet-Funktion|Dirichlet-Funktion]]) ein Beispiel für eine nicht differenzierbare Funktion. Es gibt aber auch Funktionen, die zwar stetig sind, aber nicht oder nicht überall differenzierbar.

==== Wurzelfunktion ====
[[Datei:Square-root.svg|mini|Graph der Wurzelfunktion]]
Die [[w:de:Quadratwurzel|Wurzelfunktion]] <math>f\colon [0,\infty) \to \mathbb{R} </math>, <math>f(x) = \sqrt x </math> ist an der Stelle <math>x_0 = 0</math> nicht differenzierbar.
Der Differenzenquotient
:<math>\frac{\sqrt x -\sqrt 0}{x - 0} = \frac{\sqrt{x}}{x} = \frac{1}{\sqrt x} </math>
strebt für <math>x \to 0</math> gegen unendlich, konvergiert also nicht.
Der Graph der Funktion hat an der Stelle <math>x_0</math> eine Tangente, diese verläuft aber vertikal und besitzt deshalb keine Steigung.

==== Betragsfunktion ====
[[Datei:Abs x.svg|mini|Funktionsgraph und Graph der Ableitung von <math>f(x) = |x|</math>]]
Die Betragsfunktion <math> f (x) = |x| </math> ist an der Stelle <math>0</math> nicht differenzierbar.

Für <math> x > 0 </math> ist <math> f(x)=x </math> und damit

:<math>
  \lim_{x \searrow 0} \frac {f(x) - f(0)} {x - 0}
  = \lim_{x \searrow 0}\frac {x-0}{x-0} = 1
</math>.

Für <math> x < 0 </math> ist dagegen <math> f(x)=-x </math> und folglich

:<math>
  \lim_{x \nearrow 0} \frac {f(x) - f(0)} {x - 0}
  = \lim_{x \nearrow 0}\frac {-x-0}{x-0} = -1
</math>.

==== Betragsfunktion - rechtsseitige und linksseitige Grenzwerte====
Da der [[w:de:Grenzwert (Funktion)#Einseitige Grenzwerte|links-]] und der [[w:de:Grenzwert (Funktion)#Einseitige Grenzwerte|rechtsseitige Grenzwert]] nicht übereinstimmen, existiert der Grenzwert nicht. Die Funktion <math> f </math> ist somit an der betrachteten Stelle nicht differenzierbar.

Es existieren an der Stelle <math>0</math> jedoch die ''rechtsseitige Ableitung''

:<math>f'_+ (0) = \lim_{x \searrow 0} \frac {f(x) - f(0)} {x - 0}
  = \lim_{x \searrow 0}\frac {x-0}{x-0} = 1</math>

und die ''linksseitige Ableitung''

:<math>f'_- (0) = \lim_{x \nearrow 0} \frac {f(x) - f(0)} {x - 0}
  = \lim_{x \nearrow 0}\frac {-x-0}{x-0} = -1</math>.

==== Anschauliche Beschreibung ====
Der Funktionsgraph hat an der Stelle <math>0</math> einen Knick. Es gibt sozusagen eine linksseitige Tangente mit Steigung <math>-1</math> und eine rechtsseitige mit Steigung <math>+1</math>. Zu jeder Steigung zwischen <math>-1</math> und <math>+1</math> gibt es eine Gerade, die den Funktionsgraph im Punkt <math>(0,0)</math> „berührt“, aber sich nicht „anschmiegt“.

Dies ist ein typisches Verhalten für abschnittsweise definierte Funktionen, wo an den Nahtstellen zwar die Funktionswerte zusammenpassen, aber nicht die Ableitungen. Die Graphen von differenzierbaren Funktionen haben demgegenüber keine Knicke.

==== Beispiel - stetig - in einem Punkt nicht differenzierbar ====
[[Datei:The function x*sin(1 over x).svg|mini|Graph der Funktion <math>f</math> mit <math>f(x) =  x  \sin (1/x)</math> für <math>x\neq 0</math> und <math>f(0)=0</math>.]]
Die Funktion
:<math>f(x) =
\begin{cases}
    x \sin \left(\tfrac 1 x\right) & x \ne 0 \\
    0 & x = 0
\end{cases}
</math>
ist an der Stelle 0 stetig, aber nicht differenzierbar (aber überall sonst).
Für den Differenzenquotient an der Stelle 0 gilt
:<math>\frac{f(x) - f(0)}{x-0} = \frac{x \sin \left(\tfrac 1 x\right) - 0}{x-0} = \sin \left(\tfrac 1 x\right).</math>
Der Limes für <math>x \to 0</math> existiert nicht. Es existieren auch keine einseitigen Grenzwerte. Vielmehr pendelt der Differenzenquotient, wenn <math>x</math> gegen 0 geht, unendlich oft zwischen den Werten −1 und 1 und nimmt dabei jeden Zwischenwert unendlich oft an.

==== Weierstraß-Funktion - stetig - nirgends differenzierbar ====
Die nach ihrem Entdecker benannte [[w:de:Weierstraß-Funktion|Weierstraß-Funktion]]
:<math>f(x)=\sum_{k=1}^\infty \frac{2^k\sin(2^kx)}{3^k}</math>
ist überall stetig, aber nirgends differenzierbar.

[[Datei:WeierstrassFunction.svg|350px|Graph einer reellen Weierstraßfunktion. Sie ist stetig, aber nirgends differenzierbar.]]

==== Wiener-Prozess ====
Weitere Beispiele liefert die mathematische Brownsche Bewegung:
[[w:de:Fast sichere Eigenschaften|Fast jeder]] [[w:de:Pfad (Stochastischer Prozess)|Pfad]] eines [[w:de:Wiener-Prozess|Wiener-Prozess]]es ist als Funktion <math>X_{\cdot}(\omega)\colon \mathbb{R} \to \mathbb{R},\ t\mapsto X_t(\omega)</math> stetig, aber nirgends differenzierbar.

[[Datei:Wiener process zoom.png|mini|Pfad eines Wienerprozesses]]

=== Stetige Differenzierbarkeit und höhere Ableitungen ===
[[Datei:N stetig diffb svg.svg|mini|Beispiel einer nicht stetig differenzierbaren Funktion]]
[[Datei:The function x^2*sin(1 over x).svg|mini|Die Funktion <math>f \colon \mathbb{R}\to\mathbb{R}</math> mit <math>f(x)=x^2\sin\left(\tfrac 1x\right)</math> für <math>x\neq 0</math> und <math>f(0)=0</math> ist differenzierbar, aber nicht stetig differenzierbar]]
Eine Funktion heißt stetig differenzierbar, wenn sie differenzierbar ist und ihre Ableitung [[w:de:stetig|stetig]] ist. Selbst wenn eine Funktion überall differenzierbar ist, muss die Ableitung nicht stetig sein. Zum Beispiel ist die Funktion

: <math>
  f(x) =
  \begin{cases}
    x^2 \cos \left( \frac{1}{x} \right) & x\ne 0\\
    0 & x=0
  \end{cases}
</math>

an jeder Stelle, inklusive <math>x=0</math>, differenzierbar

==== Differenzierbarkeit im Nullpunkt ====
Die Funktion <math>f</math> ist u.a. in 0 differenzierbar, weil

:<math>f'(0)=\lim_{h\to0}\frac{h^2\cos\left(\tfrac{1}{h}\right)-0}{h}=0.</math>


==== Ableitung im Nullpunkt nicht stetig====
Die Ableitung

: <math>
  f'(x) =
  \begin{cases}
    2x\cos \left(\frac{1}{x} \right) + \sin \left(\frac{1}{x} \right) & x\ne 0\\
    0 & x=0
  \end{cases}
</math>

ist aber an der Stelle 0 nicht stetig.

=== Definition: n-fache Differenzierbarkeit ===
Eine Funktion <math>f</math> heißt ''zweimal differenzierbar,'' wenn ihre Ableitungsfunktion <math>f'</math> differenzierbar ist. Entsprechend wird ''dreimal, viermal, …, <math>k</math>-mal differenzierbar'' definiert. Die höheren Ableitungen werden mit <math>f''</math>, <math>f'''</math>, <math>f^{(4)}</math>, …, <math>f^{(k)}</math> bezeichnet.

=== Differenzierbarkeit impliziert Stetigkeit ===
Da aus der Differenzierbarkeit einer Funktion die Stetigkeit folgt, sind bei einer zweimal differenzierbaren Funktion die Funktion <math>f</math> selbst und die erste Ableitung <math>f'</math> automatisch stetig. Die zweite Ableitung <math>f''</math> braucht jedoch nicht stetig zu sein. Entsprechend sind bei einer <math>k</math>-mal differenzierbaren Funktion die Funktion selbst und alle Ableitungen <math>f'</math>, <math>f''</math>, … bis zur <math>(k-1)</math>-ten Ableitung <math>f^{(k-1)}</math> stetig. Für die <math>k</math>-te Ableitung <math>f^{(k)}</math> braucht dies jedoch nicht zu gelten. Ist diese auch stetig, so nennt man <math>f</math> <math>k</math>-mal ''stetig'' differenzierbar. Sind alle Ableitungen wieder differenzierbar, so nennt man die Funktion ''unendlich oft differenzierbar'' oder ''[[w:de:Glatte Funktion|glatt]].''

=== Vektorraum von differenzierbaren Funktionen ===
Sei <math>\mathbb{K}=\mathbb{R},\mathbb{C}</math> ein Körper. <math>\mathcal{C}^k(D,\mathbb{K})</math> bezeichnet die Menge aller <math>k</math>-mal stetig differenzierbaren Funktionen mit der [[w:de:Definitionsmenge|Definitionsmenge]] <math>D</math> und dem Wertebereich <math>\mathbb{K}</math>. Die Menge der unendlich oft differenzierbaren Funktionen heißt <math>\mathcal{C}^\infty(D,\mathbb{K})</math>. Eine <math>k</math>-mal stetig differenzierbare Funktion nennt man daher auch ''Funktion der [[w:de:Differentiationsklasse|Differentiationsklasse]] <math>\mathcal{C}^k</math>,'' kurz: ''Funktion der Klasse <math>\mathcal{C}^k</math>'' oder ''<math>\mathcal{C}^k</math>-Funktion.'' Eine unendlich oft differenzierbare Funktion heißt entsprechend ''Funktion der (Differentiations-)Klasse <math>\mathcal{C}^\infty</math>'' oder ''<math>\mathcal{C}^\infty</math>-Funktion.''

==== Beispiel 1 - einmal stetig differenzierbare Funktion ====
Die Funktion
:<math>f(x) = x \cdot |x| =
\begin{cases}
-x^2 & x<0 \\
\ \ x^2 & x \ge 0
\end{cases}</math>
ist differenzierbar, ihre Ableitung ist die Funktion <math>f'(x) = 2 \,|x|</math>, die stetig, aber an der Stelle 0 nicht differenzierbar ist. Die Funktion <math>f</math> ist also stetig differenzierbar, aber an der Stelle 0 nicht zweimal differenzierbar.


==== Beispiel 2 - k-fach stetig differenzierbare Funktion ====
Entsprechend ist die Funktion
:<math>f(x) = x^{k} \cdot |x| =
\begin{cases}
-x^{k+1} & x<0 \\
\ \ x^{k+1} & x \ge 0
\end{cases}</math>
<math>k</math>-mal stetig differenzierbar, aber an der Stelle 0 nicht <math>k+1</math>-mal differenzierbar.

== Komplexe Funktionen ==
Für [[w:de:komplexe Funktion|komplexe Funktion]]en, also [[w:de:komplexwertige Funktion|komplexwertige Funktion]]en einer komplexen Variablen, definiert man Differenzierbarkeit ganz analog zu reellen Funktionen.
Es sei <math>U \subset \mathbb{C}</math> eine offene Teilmenge der komplexen Ebene und <math>z_0\in U</math> ein Punkt dieser Teilmenge. Eine Funktion <math>f\colon U \rightarrow \mathbb{C}</math> heißt ''komplex differenzierbar'' im Punkt <math>z_0</math>, falls der [[w:de:Grenzwert (Funktion)|Grenzwert]]

:<math>\lim_{h \rightarrow 0}\frac{f(z_0+h)-f(z_0)}{h}
=\lim_{z\rightarrow z_0}\frac{f(z)-f(z_0)}{z-z_0}
</math>

existiert.<ref>{{Literatur
| Titel=Lexikon der Mathematik
| Herausgeber=Guido Walz
| Band=Band 3 (Inp bis Mon)
| Seiten=148 f.
| Verlag=Springer Spektrum Verlag
| Ort=Mannheim
| Jahr=2017
| Auflage=2. Aufl.
| ISBN=978-3-662-53501-1
| DOI=10.1007/978-3-662-53502-8}}
</ref> In diesem Fall bezeichnet man diesen Grenzwert als <math>f'(z_0)</math>.

Eine Funktion <math>f</math> heißt ''holomorph im Punkt <math>z_0</math>,'' falls eine Umgebung von <math>z_0</math> existiert, in der <math>f</math> komplex differenzierbar ist.
Holomorphe Funktionen sind automatisch unendlich oft komplex differenzierbar und sogar [[w:de:Analytische Funktion|analytisch]].

== Reellwertige Funktionen mehrerer Variablen ==
Für Funktionen mehrerer Veränderlicher, also Funktionen, die auf offenen Teilmengen des [[w:de:Euklidischer Raum|euklidischen Raums]] definiert sind, gibt es mehrere verschieden starke Begriffe der Differenzierbarkeit.
Im Folgenden sei <math>U \subset \mathbb{R}^n</math> eine offene Menge. Die Elemente des <math>\mathbb{R}^n</math> können als <math>n</math>-Tupel <math>x = (x_1, \dots, x_n)</math> geschrieben werden.
Weiter sei eine Funktion <math>f \colon U \to \mathbb{R}</math> gegeben. Wir betrachten einen festen Punkt <math>a = (a_1, \dots, a_n) \in U</math> und betrachten Differenzierbarkeit im Punkt <math>a</math>.

=== Partielle Differenzierbarkeit ===
Dies ist der schwächste Differenzierbarkeitsbegriff.
Die Funktion <math>f</math> heißt ''partiell differenzierbar'' am Punkt <math>a</math> in Richtung <math>x_i</math>, falls die [[w:de:partielle Ableitung|partielle Ableitung]]
:<math>\frac{\partial f }{\partial x_i}(a)= \lim_{h \to 0} \frac{f(a_1, \dots, a_{i-1}, a_i + h, a_{i+1}, \dots, a_n) - f(a)}{h}
</math>
existiert. Man betrachtet also alle Variablen bis auf <math>x_i</math> als konstant und betrachtet die so erhaltene Funktion einer Veränderlichen.

Die Funktion <math>f</math> heißt ''partiell differenzierbar,'' wenn in jedem Punkt alle partiellen Ableitungen existieren.
Sie heißt ''stetig partiell differenzierbar,'' falls alle partiellen Ableitungen stetige Funktionen von <math>U \subset \mathbb{R}^n</math> nach <math>\mathbb{R}</math> sind.

=== Bemerkung - partielle Differenzierbarkeit  und Stetigkeit===
Aus partieller Differenzierbarkeit folgt nicht die Stetigkeit, sondern nur Stetigkeit in Richtung der Koordinatenachsen.

=== Richtungsableitung ===
Ist <math>v \in \mathbb{R}^n</math> ein [[w:de:Einheitsvektor|Einheitsvektor]], so ist die ''(beidseitige) [[w:de:Richtungsableitung|Richtungsableitung]]'' von <math>f</math> in Richtung <math>v</math> an der Stelle <math>a</math> definiert als
:<math>D_v f(a) = \lim_{h \to 0}\frac{f(a + h v) - f(a)}{h}</math>.

=== Einseitige Richtungsableitung ===
Betrachtet man nur positive <math>h</math>, so erhält man die ''einseitige Richtungsableitung''
:<math>D_v^+ f(a) = \lim_{h \searrow 0}\frac{f(a + h v) - f(a)}{h}</math>.
Die Funktion <math>f</math> heißt ''(einseitig) differenzierbar in Richtung von <math>v</math>,'' falls die (einseitige) Richtungsableitung von <math>f</math> in Richtung <math>v</math> existiert.
Die Richtungsableitungen in Richtung der Einheitsvektoren der [[w:de:Standardbasis|Standardbasis]] sind gerade die partiellen Ableitungen
:<math>\frac{\partial f}{\partial x_i}(a) = D_{e_i} f(a)</math>.

=== Bemerkung - Einseitige Richtungsableitung ===
Die einseitigen Richtungsableitungen verallgemeinern den Begriff des rechtsseitigen und linksseitigen Grenzwertes für den Differenzenquotienten aus der elementaren Analysis mit eindimensionalem Definitionsbereich.

=== Totale Differenzierbarkeit ===

Die Funktion <math>f</math> heißt total differenzierbar im Punkt <math>a</math>, falls eine [[w:de:lineare Abbildung|lineare Abbildung]] <math>L \colon \mathbb{R}^n \to \mathbb{R}</math> und eine Funktion <math>r</math> existieren, so dass sich <math>f</math> bis auf den Fehler <math>r</math> durch <math>L</math> approximieren lässt,
:<math>f(a+v) = f(a) + L v + r(v),</math>
und <math>r</math> von höherer als erster Ordnung gegen 0 geht, das heißt <math>\tfrac {r(v)}{\|v\|} \to 0</math> für <math>\|v\| \to 0</math>.

==== Totale Ableitung ====
Die lineare Abbildung <math>L</math> heißt [[w:de:totale Ableitung|totale Ableitung]] von <math>f</math> im Punkt <math>a</math>.
Sie wird mit <math>Df(a)</math> bezeichnet. Die [[w:de:Abbildungsmatrix|Matrixdarstellung]] bezüglich der Standardbasis heißt [[w:de:Jacobi-Matrix|Jacobi-Matrix]] und wird mit <math>J_f(a)</math> oder auch <math>Df(a)</math> bezeichnet.
Die Funktion <math>f</math> heißt ''total differenzierbar,'' falls sie in jedem Punkt total differenzierbar ist.

==== Bemerkung - totale Differenzierbarkeit und Stetigkeit ====
Eine total differenzierbare Funktion ist auch stetig.

In der neueren mathematischen Literatur spricht man statt von totaler Differenzierbarkeit meist einfach von Differenzierbarkeit. Die totale Ableitung wird auch Differential genannt.

=== Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Differenzierbarkeitsbegriffen ===
* Ist <math>f</math> beidseitig differenzierbar in jede Richtung, so ist <math>f</math> insbesondere partiell differenzierbar.
* Ist <math>f</math> total differenzierbar, so ist <math>f</math> differenzierbar in jede Richtung (also insbesondere auch partiell differenzierbar). Die Einträge der Jacobi-Matrix sind die partiellen Ableitungen
*:<math>J_f(a) = \left(\frac{\partial f}{\partial x_1}(a)\quad \dots \quad \frac{\partial f}{\partial x_n}(a)\right)</math>.
: Man erhält die Richtungsableitung in Richtung <math>v = (v_1,\dots, v_n)</math>, indem man die totale Ableitung (eine lineare Abbildung) auf den Vektor <math>v</math> anwendet.
::<math>D_v f(a) = Df(a) \, v = \sum_{i=1}^n \frac{\partial f}{\partial x_i}(a) \, v_i
</math>

==== Umkehrungen ohne Stetigkeit der Ableitungen ====
Die Umkehrungen gelten nicht:
* Aus der partiellen Differenzierbarkeit folgt weder die totale Differenzierbarkeit noch die beidseitige oder einseitige Differenzierbarkeit in Richtungen, die keine Koordinatenrichtungen sind.
* Auch aus der beidseitigen Differenzierbarkeit in alle Richtungen folgt nicht totale Differenzierbarkeit. Selbst dann nicht, wenn der Kandidat für die totale Ableitung, die Abbildung <math>v \in \mathbb{R}^n \mapsto D_vf(a)</math>, linear ist.

==== Umkehrungen mit Stetigkeit der Ableitungen ====
Anders ist es, wenn man nicht nur die Existenz, sondern auch die Stetigkeit der partiellen Ableitungen voraussetzt.
* Ist <math>f</math> stetig partiell differenzierbar, so ist <math>f</math> auch total differenzierbar.
Man nennt stetig partiell differenzierbare Funktionen deshalb auch einfach ''stetig differenzierbar.''
Auch hier gilt die Umkehrung nicht:
* Aus totaler Differenzierbarkeit folgt nicht die Stetigkeit der partiellen Ableitungen.

==== Implikationen für Differenzierbarkeitseigenschaften ====
Insgesamt gilt somit:
: stetige partielle Differenzierbarkeit <math>\to</math> totale Differenzierbarkeit <math>\to</math> Differenzierbarkeit in jede Richtung <math>\to</math> partielle Differenzierbarkeit,

Es gelten jedoch keine der Umkehrungen.

=== Beispiele ===
* Jede Funktion, die sich als Polynom in den Variablen <math>x_1, \dots, x_n</math> darstellen lässt, ist stetig differenzierbar.
* Summen, Produkte, Quotienten und Verkettungen von stetig differenzierbaren Funktionen sind stetig differenzierbar.

=== Gegenbeispiele ===
Alle Gegenbeispiele sind Funktionen auf dem <math>\mathbb{R}^2</math>. Die Koordinaten werden mit <math>x</math> und <math>y</math> bezeichnet statt mit <math>x_1</math> und <math>x_2</math>. Von Interesse ist hier nur die Differenzierbarkeit und Stetigkeit am Ursprung <math>(0,0)</math>. Überall sonst sind die Funktionen stetig differenzierbar.

==== Partiell differenzierbar, aber nicht stetig und nicht alle Richtungsableitungen ====
[[Datei:3d-function-3.svg|mini|Graph der Funktion <math>f_1</math>]]
Die Funktion
:<math>
 f_1(x,y) =
  \begin{cases}
    \dfrac{2xy}{x^2+y^2} & (x,y) \ne (0,0) \\
    0 & (x,y) = (0,0)
   \end{cases}
</math>
ist an der Stelle (0,0) partiell differenzierbar. Auf den Koordinatenachsen hat die Funktion konstant den Wert 0, das heißt für alle <math>x</math> und <math>y</math> gilt
:<math>f_1(x,0) = f_1(0,y) = 0</math>.
Daraus folgt
:<math>\frac {\partial f_1}{\partial x}(0,0) = \frac {\partial f_1}{\partial y}(0,0)= 0</math>.
Die Funktion ist jedoch bei (0,0) nicht stetig.
Auf der ersten Winkelhalbierenden (mit Ausnahme des Ursprungs) hat <math>f_1</math> konstant den Wert eins (<math>f_1(t,t) = 1</math>).
Nähert man sich dem Ursprung auf der ersten Winkelhalbierenden, so streben die Funktionswerte also gegen 1.
Die Richtungsableitung in andere Richtungen als die der Koordinatenachsen existieren nicht.

[[Datei:3d-function-4.svg|mini|Graph der Funktion <math> f_2</math>]]
Die Funktion
:<math>
 f_2(x,y) =
  \begin{cases}
    \dfrac{2xy}{\sqrt{x^2+y^2}} & (x,y) \ne (0,0) \\
    0 & (x,y) = (0,0)
   \end{cases}
</math>
ist an der Stelle (0,0) partiell differenzierbar und stetig. Alle einseitigen Richtungsableitungen existieren, aber außer in die Koordinatenrichtungen nicht die beidseitigen.

=== Einseitige Ableitung - aber keine beidseitigen Richtungsableitungen ===
[[Datei:3d-function-5.svg|mini|Graph der Funktion <math> f_3</math>]]
Die [[w:de:euklidische Norm|euklidische Norm]]
:<math>
 f_3(x,y) = \sqrt{x^2 +y^2}
</math>
verallgemeinert die [[w:de:Betragsfunktion|Betragsfunktion]]. Sie ist überall stetig.

==== Einseitige Richtungsableitung ====
Für jeden Einheitsvektor <math>v = (v_1,v_2) \in \mathbb{R}^2</math> existiert die einseitige Richtungsableitung von <math>f_3</math> in <math>(0,0)</math> und es gilt
:<math>D_v^+ f_3(0,0) = \lim_{h \searrow 0} \frac{\sqrt {(h v_1)^2 + (h v_2)^2}}{h} = \lim_{h \searrow 0} \frac{|h|}{h} \sqrt {v_1^2 + v_2^2} = \lim_{h \searrow 0} \frac{|h|}{h} = 1</math>
Der Grenzwert existiert nur einseitig, also existieren die beidseitigen Richtungsableitungen nicht.
Insbesondere ist die Funktion auch nicht partiell differenzierbar.

==== Alle Richtungsableitungen existieren, aber definieren keine lineare Abbildung ====
[[Datei:3d-function-6.svg|mini|Graph der Funktion <math> f_4</math>]]
:<math>
 f_4(x,y) =
  \begin{cases}
    \dfrac{3x^2y-y^3}{x^2+y^2} & (x,y) \ne (0,0) \\
    0 & (x,y) = (0,0)
   \end{cases}
</math>
Hier existieren alle Richtungsableitungen, für die partiellen Ableitungen gilt
:<math>\frac {\partial f_4}{\partial x}(0,0) = 0,\ \frac {\partial f_4}{\partial y}(0,0) = -1.
</math>
Die Abbildung <math>v \mapsto D_v f_4(0,0)</math> ist jedoch nicht linear.
Für den Einheitsvektor <math>v = \left(\tfrac{1}{2}, \tfrac{\sqrt{3}}{2} \right)</math> gilt
:<math>D_{\left(\tfrac {1}{2}, \tfrac {\sqrt{3}}{2} \right)} f_4 (0,0) = 0, </math>
während
: <math>\frac {\partial f_4}{\partial x}(0,0) \cdot \frac{1}{2} + \frac {\partial f_4}{\partial y}(0,0) \cdot \frac{\sqrt{3}}{2} = - \frac{\sqrt{3}}{2}.</math>

==== Alle Richtungsableitungen existieren und definieren eine lineare Abbildung, aber nicht total differenzierbar ====
[[Datei:3d-function-7.svg|mini|Graph der Funktion <math> f_5</math>]]
:<math>
 f_5(x,y) =
  \begin{cases}
    \dfrac{xy^3}{x^2+y^4} & (x,y) \ne (0,0) \\
    0 & (x,y) = (0,0)
   \end{cases}
</math>
Hier existieren alle Richtungsableitungen, für jeden Vektor <math>v \in \mathbb{R}^2</math> gilt
<math>D_v f_5(0,0) = 0</math>.
Insbesondere ist <math>f_5</math> partiell differenzierbar mit
:<math>\frac {\partial f_5}{\partial x}(0,0) = \frac {\partial f_5}{\partial y}(0,0)= 0</math>
und die Abbildung
:<math>v \mapsto D_v f_5(0,0) = 0</math>
ist die Nullabbildung, also trivialerweise linear.

Die Funktion ist auch stetig.
Sie ist jedoch an der Stelle (0,0) nicht total differenzierbar.
Wäre sie es, so wäre <math>L = Df(0,0)</math> die Nullabbildung und für jeden Vektor <math>v = (v_1, v_2)</math> gälte
: <math>f_5(v_1,v_2) = f_5(0,0) + L (v_1,v_2) + r(v_1,v_2) = 0 + 0 + r(v_1, v_2)</math>.
Für das Fehlerglied <math>r(v) = r(v_1,v_2)</math> gälte also
:<math>r(v_1,v_2) = \frac{v_1v_2^3}{v_1^2+v_2^4}</math>.
Setzt man <math>v_1 = h^2</math> und <math>v_2 = h</math> mit <math>h>0</math>, so erhält man
:<math>r(v) = \frac{h^2 h^3}{h^4 + h^4} = \frac h 2</math> und <math>\|v\| = \sqrt{h^4 + h^2} = h \sqrt{1 + h^2}</math>, also <math>\frac {r(v)}{\|v\|} = \frac 1 {2\sqrt{1 + h^2}}</math>.
Für <math>h</math> gegen 0 geht dieser Term gegen <math>\tfrac 12</math> statt gegen 0.

==== Total differenzierbar, aber nicht stetig partiell differenzierbar ====
[[Datei:Graph der Funktion f6.pdf|mini|Graph der Funktion <math> f_6</math>]]
Diese Funktion ist der entsprechenden Beispielfunktion einer Variablen nachgebildet, der Nachweis verläuft im Prinzip genauso wie dort.
:<math>
 f_6(x,y) =
  \begin{cases}
    (x^2 + y^2) \sin \dfrac{1}{x^2+y^2} & (x,y) \ne (0,0) \\
    0 & (x,y) = (0,0)
   \end{cases}
</math>
Die Funktion ist an der Stelle (0,0) total differenzierbar, die Ableitung ist die [[w:de:Nullfunktion|Nullfunktion]].
Nähert man sich dem Nullpunkt, so divergieren jedoch die partiellen Ableitungen, zum Beispiel geht der Betrag von
:<math>
\frac{\partial f_6}{\partial x}(x,0) = 2x \sin \dfrac{1}{x^2} - \frac{2}{x} \cos \dfrac{1}{x^2}
</math>
gegen unendlich für <math>x</math> gegen 0.

== Abbildungen zwischen endlichdimensionalen Vektorräumen ==
Eine Abbildung <math>F</math> von einer offenen Menge <math>U \subset \mathbb{R}^n</math> in den Vektorraum <math>\mathbb{R}^m</math> lässt sich durch ihre Komponentenfunktionen darstellen:
:<math>F(x) = \left(f_1(x), \dots, f_m(x)\right)</math> mit <math>f_i \colon U \to \mathbb{R}</math> für <math>i = 1, \dots, m</math>.
Differenzierbarkeit von <math>F</math> lässt sich dann auf Differenzierbarkeit der <math>f_i</math> zurückführen.
<math>F</math> ist (im Punkt <math>a \in U</math>) genau dann ''partiell differenzierbar (differenzierbar in Richtung des Vektors <math>v</math>, total differenzierbar, stetig partiell differenzierbar),'' wenn alle Komponentenfunktionen <math>f_1, \dots, f_m</math> diese Eigenschaft haben.

=== Jakobi-Matrix ===
Ist <math>F</math> im Punkt <math>a</math> total differenzierbar, so ist <math>DF(a)</math> eine lineare Abbildung von <math>\mathbb{R}^n</math> nach <math>\mathbb{R}^m</math>. Ihre Darstellungsmatrix, die Jacobi-Matrix, besteht aus den partiellen Ableitungen der Komponentenfunktion <math>f_k</math>:
:<math>J_F (a) = \begin{pmatrix}
\frac{\partial f_1}{\partial x_1}& \dots& \frac{\partial f_1}{\partial x_n}\\
\vdots &&\vdots \\
\frac{\partial f_m}{\partial x_1}& \dots& \frac{\partial f_m}{\partial x_n}
\end{pmatrix}</math>
und die Richtungsableitung von <math>F</math> im Punkt <math>a</math> in Richtung <math>v</math> ist das Bild des Vektors <math>v</math> unter der linearen Abbildung <math>DF(a)</math>.

== Funktionen und Abbildungen auf unendlichdimensionalen Vektorräumen ==
Auf unendlichdimensionalen Vektorräumen gibt es keine Koordinaten, deshalb gibt es keine partielle Differenzierbarkeit.
Die Begriffe Richtungsableitung und totale Differenzierbarkeit lassen sich jedoch auf unendlichdimensionale Vektorräume verallgemeinern. Dabei spielt im Gegensatz zum Endlichdimensionalen die Topologie auf den Vektorräumen eine wichtige Rolle.
Typische Beispiel für unendlichdimensionale Vektorräume sind Funktionenräume, also Vektorräume, deren „Vektoren“ Funktionen sind. Zur Unterscheidung nennt man die auf diesen Vektorräume definierten Funktionen ''Funktionale'' und nennt Abbildungen zwischen solchen Vektorräumen ''Operatoren.''

=== Gâteaux-Differenzierbarkeit ===
Der Richtungsableitung entspricht die ''Gâteaux-Ableitung.''
Gegeben sei ein [[w:de:Normierter Raum|normierter Vektorraum]] <math>V</math> (das heißt ein (typischerweise unendlichdimensionaler) Vektorraum zusammen mit einer [[w:de:Norm (Mathematik)|Norm]] <math>\| \cdot \|</math>), eine offene Teilmenge <math>U \subset V</math> und ein Funktional <math>F \colon U \to \mathbb{R}</math>.
Die Gâteaux-Ableitung von <math>F</math> an einem „Punkt“ <math>x_o \in U</math> in Richtung eines Vektors <math>v \in V</math>  ist dann gegeben durch
:<math>\delta F(a,v) :=\lim_{h \to 0} \frac{F(x_o+h \, v)-F(x_o)}{h} </math>
falls der Grenzwert existiert.

==== Bemerkung - Normierte Gateaux-Ableitung ====
Der Wert der Ableitung ist in der Regel von der Länge von <math>v</math> abhängig. Eine Normierung des Vektors <math>v</math> mit mit <math>\|v\|=1</math> entspricht der Normierung der partiellen Ableitung in Richtung der Einheitsvektoren. Im normierten Fall ergibt sich:
:<math>\frac{\partial F}{\partial v}(x_o) :=\lim_{h \to 0} \frac{F(x_o+h \, v)-F(x_o)}{h} \mbox{ mit } \|v\| = 1 </math>

=== Aufgaben ===
* Geben Sie eine Beispiel für eine Richtungsableitung an, bei dem sich die Richtungsableitung in Richtung <math>v</math> und <math>2\cdot v</math> unterscheiden.
* Sei <math>V:=\mathcal{C}([a,b],\mathbb{R})</math> der Vektorraum der stetigen Funktionen mit der Maximumsnorm <math>\|\cdot\|</math> auf <math>V</math> mit <math>\|f\|:= \displaystyle \max_{x\in[a,b]} |f(x)| </math>. Gegeben ist die Abbildung <math>F:V\to \mathbb{R}</math> mit <math>F(f):=\int_{a}^{b} f(x)\, dx</math>. Betrachten Sie die Gateaux-Ableitung von <math>F</math> an der Stelle <math>f_o</math> in Richtung <math>v</math> mit <math>f_o(x):=x^2</math> und <math>v(x):=\frac{1}{b-a}</math>.

=== Gâteaux-Abbildung ===
Falls die Gâteaux-Ableitung für jedes <math>v \in V</math> existiert, dann
ist eine Abbildung <math>\delta F(a)\colon V \to \mathbb{R}</math>, <math>v \mapsto \delta F(a,v)</math> erklärt.
Aus der Definition folgt sofort, dass diese Abbildung positiv homogen ist, also <math>\delta F(a,\lambda v) = \lambda \delta F(a,v)</math> für alle <math>\lambda > 0</math>.
[[Datei:Animation for Gateaux derivation in time variable.gif|450px|Gateaux-Ableitung nach der Zeit]]

=== Bemerkung - Existenz aller Richtungsableitungen ===
Wie im Endlichdimensionalen folgt aus der Existenz aller Richtungsableitungen nicht, dass <math>\delta F(a)</math> additiv und damit linear ist.
Auch wenn die Abbildung linear ist, folgt nicht, dass sie stetig ist.

=== Bemerkung - Unterschiedliche nicht verträgliche Definitionen ===
Für den Begriff ''Gâteaux-Differenzierbarkeit'' gibt es mehrere nicht verträgliche Konventionen:

Manche Autoren nennen ein Funktional <math>F</math> ''Gâteaux-differenzierbar'' im Punkt <math>x_o</math>, falls alle <math>\delta F(a,v)</math> existieren, und bezeichnen dann die Abbildung
<math>\delta F(a)</math> als ''Gateaux-Ableitung'' von <math>F</math> im Punkt <math>x_o</math>.
Andere fordern zusätzlich, dass <math>\delta F(a)</math> linear und stetig ist.

=== Gâteaux-Differenzierbarkeit für Operatoren ===
Ganz analog definiert man Gâteaux-Differenzierbarkeit und Gâteaux-Ableitung für Operatoren <math>F:V\to W</math> von einem normierten Vektorraum <math>(V,\|\cdot\|_V)</math> in einen andern normierten Vektorraum <math>(W,\|\cdot\|_W)</math> (typischerweise ein [[w:de:Banachraum|Banachraum]]). Die in der Definition der Gâteaux-Ableitung geforderte Konvergenz versteht sich dann im Sinne der Norm <math>\|\cdot\|_W)</math> auf <math>W</math>. Entsprechendes gilt für die Stetigkeit von <math>\delta F(x_o,\cdot) \colon V \to W</math>.

=== Fréchet-Differenzierbarkeit ===
Der totalen Differenzierbarkeit im Endlichdimensionalen entspricht bei unendlichdimensionalen Vektorräumen die ''Fréchet-Differenzierbarkeit.''
Gegeben seien [[w:de:Banach-Raum|Banachräume]] <math>V</math> und <math>W</math>, eine offene Teilmenge <math>U \subset V</math>, eine Abbildung <math>F\colon U \to W</math> und ein Punkt <math>a \in U</math>.

==== Definition - Fréchet-differenzierbar ==== 
Die Abbildung <math>F</math> heißt ''Fréchet-differenzierbar,'' wenn eine [[Stetigkeitssatz für lineare Abbildungen|beschränkte (also stetige) lineare Abbildung]] <math>L \colon V \to W</math> und eine Abbildung <math>r \colon U \to W</math> existieren, sodass für alle <math>h \in V</math> mit <math>x_o + h \in U</math> gilt
:<math>F(x_o+h)=F(x_o)+L\, h + r(h) \mbox{ und } \lim_{\Vert h\Vert \to 0}\frac{\|r(h)\|_{_W}}{\Vert h\Vert_{_V}}=0.</math>
Dabei steht im Zähler die Norm von <math>W</math>, im Nenner die von <math>V</math>.

==== Bezeichung - Fréchet-Ableitung ==== 
Der [[w:de:Linearer Operator|lineare Operator]] <math>L\colon V \to W</math> heißt in diesem Fall ''Fréchet-Ableitung'' von <math>F</math> an der Stelle <math>a</math>.

=== Zusammenhänge ===
Wie im Endlichdimensionalen ist jede Fréchet-differenzierbare Abbildung <math>F</math> auch Gâteaux-differenzierbar und die Gâteaux-Ableitung stimmt mit der Fréchet-Ableitung überein.
Umgekehrt braucht <math>F</math> im Punkt <math>a</math> selbst dann nicht Fréchet-differenzierbar zu sein, wenn die Gâteaux-Ableitung <math>\delta F(a)</math> linear und stetig ist.

== Begriffserweiterungen ==
Folgende Konzepte sind Verallgemeinerungen der Differenzierbarkeit:
* [[w:de:schwache Ableitung|schwache Ableitung]]en
* Differenzierbarkeit im Sinne von [[w:de:Distribution (Mathematik)|Distributionen]]
* [[w:de:Satz von Radon-Nikodým|Radon-Nikodým-Ableitung]]

== Weblinks ==
{{Commonscat|Differentiability (functions)|Differenzierbarkeit}}
{{Wikibooks|Mathe für Nicht-Freaks: Ableitung und Differenzierbarkeit}}

== Einzelnachweise ==
<references/>

== Literatur ==
Im Prinzip sämtliche einführende Literatur zu Analysis und/oder Differentialrechnung. Beispielsweise seien genannt:
* [[w:de:Otto Forster|Otto Forster]]: ''Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einer Veränderlichen.'' 7. Auflage. Vieweg, Braunschweig 2004, ISBN 3-528-67224-2.
* Otto Forster: ''Analysis 2. Differentialrechnung im'' '''R'''''<sup>n</sup>. Gewöhnliche Differentialgleichungen.'' 6. Auflage. Vieweg, Braunschweig 2005, ISBN 3-528-47231-6.
* [[w:de:Konrad Königsberger|Konrad Königsberger]]: ''Analysis.'' 2 Bände. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-41282-4.




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* Datum: 2.12.2022
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